Rede von Christine Wernicke in Textform:
Frau Christine Wernicke (BVB/FW):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Stellen Sie sich einmal folgenden Tagesablauf vor: Um 5 Uhr aufstehen, um 6 Uhr das Haus verlassen, um 7.15 Uhr nach über einer Stunde in der Schule ankommen, dort eine halbe Stunde warten, bis der Unterricht beginnt. Es folgen acht Stunden Unterricht, dann wieder 45 Minuten Warten und eine Stunde Fahrzeit nach Hause. Zu Hause kommen noch ein bis zwei Stunden Hausaufgabenmachen oder Lernen dazu.
Dieser Tagesablauf dauert bis etwa 20 Uhr und ist nicht ausgedacht. Eine Schülerin aus Hoppegarten hat diesen Ablauf fast jeden Tag: Weil das Einstein-Gymnasium in Neuenhagen und das Theodor-Fontane-Gymnasium in Strausberg voll waren und sie nicht zu den Leistungsstärksten zählte, muss die junge Dame nun jeden Tag nach Rüdersdorf pendeln. Dass diese Schulwege zumutbar seien, wie es der Landkreis in seiner Begründung behauptet, empfinde ich als schlechten Scherz.
(Beifall BVB/FW)
Es ist kein Einzelfall: Mittlerweile wird die Schülerin jeden Tag von etwa zehn Mitschülern begleitet. Warum? Die Schulentwicklungsplanung läuft hier – wie in vielen anderen Regionen unseres Landes – der Realität hinterher. Der Zuzug aus Berlin wurde in weiten Teilen des Landes schlichtweg nicht zur Kenntnis genommen. In einer Mischung aus Vogel-Strauß-Prinzip und Prinzip Hoffnung haben sich die Verantwortlichen vor Ort, aber auch – wie wir in der letzten Woche erfahren mussten – im Bildungsministerium lieber mit sich selbst beschäftigt, als die sich deutlich abzeichnenden Probleme anzugehen.
(Beifall BVB/FW) Es fehlt praktisch überall an Lehrern und Schulgebäuden. Was machen die Verantwortlichen? Sie lassen die Schüler mit diesen Problemen buchstäblich allein.
(Beifall BVB/FW)
Die Ministerien können die Metapher nicht besser als mit ihrer „Lösung“, Selbstlernzeiten einzuführen, bedienen. Ähnlich kreativ sind einige Landkreise: Als klar wurde, dass die Schulplätze in der Sekundarstufe im berlinnahen Raum den Bedarf erkennbar nicht ansatzweise decken würden, schnitt zum Beispiel der Landkreis Märkisch-Oderland kurzerhand seine Schulplanungsbereiche neu zu und reduzierte sie von vier auf zwei Schulbezirke,
(Vida [BVB/FW]: Problem gelöst!)
dies mit dem Ziel, die Schüler weiter weg schicken zu dürfen. Dabei wurde ein Schulbezirk mit 1 800 Quadratkilometern geschaffen. Das ist übrigens 85 % der Fläche des Landkreises Märkisch-Oderland.
(Lachen des Abgeordneten Vida [BVB/FW])
Ja, das ist so groß wie der Landkreis Oberhavel oder fast so groß wie der Landkreis Elbe-Elster.
Schauen wir ins Gesetz – § 4 Abs. 3 Satz 4 des Brandenburgisches Schulgesetzes. Darin findet sich folgender Satz:
„Die Anforderungen und die Belastungen durch Schulwege, Unterricht und dessen Organisation, Hausaufgaben und sonstige Schulveranstaltungen müssen der Entwicklung der Schülerin oder des Schülers entsprechen, zumutbar sein und ausreichend Zeit für eigene Aktivitäten lassen.“
(Zuruf: Hört, hört!)
Halten Sie diese Vorgabe bei der eben genannten jungen Dame für erfüllt? Ich denke, wir sind uns einig, dass das nicht der Fall ist.
(Beifall BVB/FW)
Da ist keine Zeit für eigene Aktivitäten oder Erholung vorhanden. Damit ist ein Tatbestand objektiv nicht erfüllt, und auch von einem zumutbaren Schulweg kann keine Rede sein.
(Beifall BVB/FW)
Aber nicht alle Landkreise sind so nachlässig: Die Landkreise Oder-Spree und Dahme-Spreewald sind hier fast schon vorbildlich und legen zumindest für die Sekundarstufe I einheitlich 60 Minuten Wegezeit fest. Was steht dagegen in der Satzung des Landkreises Märkisch-Oderland? Hier wird nicht die Fahrtzeit festgelegt, sondern die Wartezeit vor Ort,
(Lachen der Abgeordneten Vida und Dr. Zeschmann [BVB/FW])
also die Zeit, die Schüler länger als nötig vor Unterrichtsbeginn aufwenden müssen, weil es keine bessere Verbindung gibt. Diese Zeiten haben es in sich: Der Landkreis erlaubt eine Wartezeit von 45 Minuten vor Schulbeginn und 100 Minuten nach Schulschluss, wenn dadurch – und das denke ich mir nicht aus, es steht so in der Satzung – Schulverkehr reduziert werden kann.
(Heiterkeit und Beifall BVB/FW)
Der Landkreis Märkisch-Oderland lässt also aus Kostengründen Schüler länger an der Schule stehen, als der Landkreis Oder-Spree braucht, um sie nach Hause zu fahren. Märkisch-Oderland ist hier aber keine Ausnahme: Viele Kreise, wie OstprignitzRuppin, verzichten gänzlich auf eine Fahrtzeitenfestlegung in den Schülerbeförderungsregelungen und halten sich so alles offen. Was diese Satzungen zulassen und was leider für immer mehr Schülerinnen und Schüler real wird, ist eine Verletzung der Fürsorgepflicht und darüber hinaus eine Verletzung von § 4 Abs. 3 Satz 4 des Brandenburgischen Schulgesetzes.
(Unruhe bei der AfD)
– Meine Herren von der AfD, haben Sie Kinder?
(Zuruf von der AfD: Ja, ganz viele!)
– Danke. – Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass für alle Landkreise das Wohl der Schüler schwerer wiegt als die Kosten für den Schülerspezialverkehr
(Beifall BVB/FW)
und dass landesweit vergleichbare Lernbedingungen für Schüler sichergestellt sind. (Beifall BVB/FW) Welche Fahrtzeiten für Schüler zumutbar sind, muss unbedingt präzisiert werden.
(Zuruf: Jawoll!)
Den Landkreisen ist nachzusehen, dass ihnen hier vielleicht Mittel oder Kenntnisse fehlen. Deshalb sollten wir ihnen helfen und das Ergebnis festschreiben, sodass die Landkreise, die bisher die gesetzlichen Regelungen großzügig auslegten, angehalten werden, rechtzeitig und wohnortnah ausreichend Schulplätze anzubieten.
Übrigens gibt es hier einen sehr interessanten Anhaltspunkt im Sozialrecht: Arbeitssuchenden ist eine Pendelzeit, also die Zeit von der eigenen Haustür bis zur neuen Arbeitsstelle, von über zwei Stunden pro Tag bei einer Arbeitszeit von bis zu sechs Stunden nicht mehr zuzumuten.
(Lachen der Abgeordneten Dannenberg [DIE LINKE])
Darüber hinaus darf die Pendelzeit zweieinhalb Stunden nicht überschreiten – nachzulesen in § 140 des SGB III. Was wir im Vergleich dazu manchem Zwölfjährigen zumuten, findet selbst eine Lehrerin im ländlichen Raum unverschämt.
(Beifall BVB/FW)
Stimmen Sie unserem Antrag zu! – Vielen Dank.
(Beifall BVB/FW und der Abgeordneten Dannenberg [DIE LINKE])