Péter Vida zur Aussprache zur aktuellen Pandemischen Lage – 17.11.2021

17. Nov. 2021

Redebeitrag von Péter Vida:

Herr Abg. Vida (BVB/FW):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnete! Es kommt in jeder Krise die Zeit, in der die, die geschützt werden oder vermeintlich geschützt werden, zu Recht hinterfragen, was die, die sie schützen, in Wirklichkeit getan haben, ob sie lauter agieren und ob sie die Erkenntnisse, die sie gewonnen haben, in die richtigen Schlüsse ummünzen. Während BVB / FREIE WÄHLER stets betonten und auch heute betonen, dass wir Vertrauen in die Motive und die Beweggründe des Handels der Landesregierung haben, haben wir dies in die ergriffenen Maßnahmen, die abgeleiteten Schlüsse nicht mehr. Viel zu oft hat eine viel zu kleine Gruppe von Ministern Entscheidungen zulasten viel zu vieler getroffen und sie gegen jede Kritik, gegen jede Empfehlung und gegen alle Bedenken durchgezogen.

Richtig ist – da gibt es nichts zu beschönigen -, dass die vierte Corona-Welle in vollem Gange ist; und mit Inzidenzen von über 1 000 im Bereich der 10- bis 14-Jährigen trifft diese Welle gerade auch Kinder und Jugendliche mit voller Wucht. Die hohen Inzidenzen bei den Jüngeren beruhen allerdings nicht unbedingt auf symptomatischen Infektionen, denn durch regelmäßige Testungen an Schulen werden auch mehr asymptomatische Coronainfektionen, also Infektionen ohne Symptome, entdeckt, die sonst eventuell unentdeckt geblieben wären. Darauf weisen auch das RKI und mehrere Experten hin.

In anderen Bereichen der Gesellschaft wurde durch das Wegfallen der kostenlosen Testmöglichkeiten in den letzten Wochen hingegen immer weniger getestet. BVB / FREIE WÄHLER haben lange gewarnt und immer wieder gefordert – im September, im Oktober -, dass Tests kostenlos bleiben müssen. Frau Ministerin Nonnemacher hielt es nicht einmal für nötig, dies in den dafür zuständigen Ausschüssen mit einer Antwort zu würdigen. Meine Damen und Herren, dies war ein kapitaler Fehler, der abgestellt gehört – und das heißt nicht nur, ihn einzugestehen, sondern die Testkapazitäten auch tatsächlich wieder hochzufahren. Nur durch das Testen aller, auch der Geimpften und Genesenen, ist man in der Lage, Infektionen zu entdecken und Infektionsketten zu durchbrechen. Dieses so wichtige Werkzeug der Eindämmung des Virus wurde gröbst fahrlässig abgeschafft, um den Impfdruck zu erhöhen. Das Resultat war: Die Menschen lassen sich nicht vermehrt impfen, testen sich aber weniger, und die Infektionszahlen gehen durch die Decke.

Das war eine gesundheitspolitische Fehlentscheidung besonderer Güte, die meines Erachtens nicht die öffentliche Kritik erfahren hat, die sie verdient hätte. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Eine vierte Welle zeichnet sich ab – alle Experten haben es gesagt, die Regierung selbst hat es gesagt -, und die Testmöglichkeiten werden sehenden Auges abgeschafft! Das kann man – ich muss mich revidieren – nicht als grob fahrlässig, sondern muss es als wissentliches und willentliches Handeln bezeichnen. Wenn uns dieselben, die die Kostenpflichtigkeit der Tests begrüßt haben, nun erklären, dass nun aufgrund der gestiegenen Inzidenzen weitere Grundrechtseinschränkungen nötig seien, erfordert dies in einer aufgeklärten Gesellschaft entschiedenen Widerspruch.

Meine Damen und Herren, da sich das Infektionsgeschehen – ich weiß – nicht nur, aber zum größten Teil auf die jüngere Bevölkerung bezieht, ist die Fokussierung allein auf die steigenden Inzidenzzahlen nicht akzeptabel, auf jeden Fall aber auch nicht das Verfügen weiterer Grundrechtseinschränkungen.

Schauen wir auf die Fakten, dann sehen wir, dass dem RKI in der gesamten Pandemiezeit in ganz Deutschland 29 validierte Covid-19-Todesfälle bei den unter 20-Jährigen übermittelt worden sind. Um jeden Einzelnen trauert man zu Recht, in der Gesamtbetrachtung muss man aber die nötige Nüchternheit an den Tag legen und feststellen, dass in 19 dieser Fälle Angaben zu bekannten Vorerkrankungen vorlagen. Die Deutsche Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie und die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene schrieben deswegen im Vorgriff auf die kommende vierte Welle in einer Stellungnahme von Mitte September – es ist noch nicht allzu lange her -, dass nur ein winziger Anteil ernsthaft betroffen ist, sodass hier an das Handeln der Politik andere Maßstäbe anzulegen sind.

Von allen Todesfällen waren 86 % der Personen 70 Jahre und älter. Der Altersmedian lag bei 83. Im Unterschied dazu beträgt der Anteil der über 70-Jährigen an der Gesamtzahl der übermittelten Covid-19-Todesfälle 12 %. Damit muss jetzt mehr denn je klar sein, dass genau diese vulnerablen Personengruppen stärker geschützt werden müssen und nicht pauschal alle anderen mit Freiheitseinschränkungen belegt werden dürfen.

Meine Damen und Herren, die Impfquote in Deutschland liegt bei knapp 68 %, in Brandenburg bei 61 %. Das ist zu wenig für die Herdenimmunität. Daran zeigt sich, dass die Schließung der Impfzentren allen Vorrednern zum Trotz ein weiterer Fehler war; denn die Hausarztpraxen kommen, gerade was die Drittimpfung anbelangt, nicht so schnell mit dem Impfen hinterher, wie es eigentlich nötig wäre. Es lag doch angesichts der sich abzeichnenden Entwicklung auf der Hand, dass man die Impfzentren nicht mit dem Verweis auf wirtschaftliche Ineffizienz stilllegen darf, sondern dass man alle Angebote, auch niedrigschwellige, zentrale und Hausarztangebote, braucht, um den Zugang möglichst einfach zu gestalten und überall präsent zu sein. Deswegen war auch die Schließung der Impfzentren im Sommer ein Fehler.

In Deutschland sind 86 % der über 60-Jährigen geimpft, in Brandenburg sind es 81 %. Bei der Auffrischungsimpfung steht Brandenburg, was die Gesamtbevölkerung anbelangt, mit 3,4 % deutschlandweit auf dem letzten Platz. Man stellt sich die Frage: Wieso ist Brandenburg beim Impfen nahezu überall Schlusslicht und nicht in der Lage, diese vulnerable Gruppe mit der dritten Impfung schneller zu schützen?

Auch diesbezüglich haben die Experten des RKI und andere Experten seit Monaten gewarnt und gesagt, dass die Drittimpfung für Ältere ein wichtiger Schlüssel ist, und auch diesbezüglich wurden kaum Vorkehrungen getroffen. Nun rächt sich, dass man auch hier nicht langfristig und vorausschauend gehandelt hat, was es eigentlich bräuchte, um Vertrauen in die Politik zu schaffen.

Meine Damen und Herren, dies sind die Fragen, auf die es Antworten bräuchte, anstatt die Bevölkerung durch immer neue Beschränkungen und 2G-Regeln zu spalten. Angesichts dessen, dass sich immer mehr Geimpfte infizieren und Impfdurchbrüche erleiden und dann auch andere infizieren können, ist ein Berufen auf die steigenden Inzidenzen als Argument bzw. als Grundlage für einen Lockdown für Ungeimpfte unmoralisch und sind weitere Einschränkungen zu ihren Lasten oder zu Lasten von wem auch immer unverhältnismäßig und unseres Erachtens nicht zu rechtfertigen.

Und bevor ein Einwand kommt: Natürlich ist die Inzidenz bei Geimpften niedriger, aber von diesen wurden auch deutlich weniger Tests absolviert. Deswegen weist auch das RKI in seinen Lageberichten auf die mangelnde Vergleichbarkeit der Zahlen aufgrund der unterschiedlichen Testmengen hin. Und ja: Auch wenn man die Statistik um die unterschiedlichen Testmengen bereinigt, ist die Quote der Betroffenheit bei den Ungeimpften höher. Bei den Geimpften steigt diese Zahl aber ebenfalls signifikant und hat einen kritischen Wert erreicht, sodass sich daraus eben nicht mehr Grundrechtseinschränkungen nur für eine bestimmte Gruppe ableiten und rechtfertigen lassen.

Zum Impfen lohnt sich ein Blick ins europäische Ausland. Spanien und Schweden wurden angesprochen. In Spanien liegt die Impfquote bei 80 %; die Inzidenz beträgt – dies ist der Stand von gestern – 53. In Schweden beträgt die Impfquote wie in Deutschland 68 %, und dort beträgt die Inzidenz auch nur 53. Schweden feierte am 29. September, also vor fast zwei Monaten, den Corona-Freedom-Day und hob bei der gleichen Impfquote wie in Deutschland praktisch alle Corona-Restriktionen auf. Als Resultat blieb die Herbstwelle aus. Was ist die Ursache? Unter anderem ist die vulnerable, also hochaltrige Altersgruppe dort deutlich mehr durchgeimpft. Laut Zahlen der schwedischen staatlichen Gesundheitsbehörde sind 90 % der 60- bis 69-Jährigen und sogar 93 % der 70- bis 79-Jährigen vollständig geimpft.

Diese bessere Impfquote bei Älteren ist ein wichtiger Faktor und kann die rückläufigen Todeszahlen und die geringere Belegung der Intensivbetten, aber nur zum Teil das Ausbleiben der Herbstwelle erklären. Die dortige Regierung zielt auf Selbstverantwortung und Selbstdisziplin ab. Genau das scheint zu funktionieren. – Bevor der Einwand kommt, Schweden sei dünner besiedelt: Stockholm ist auch eine Millionenmetropole, und auch dort funktioniert es besser als in den allermeisten Städten Deutschlands.

Meine Damen und Herren, die Coronakrise zwingt uns, eine in ruhigen Zeiten meist wenig beachtete, nun aber auf einmal elementar wirkende Frage auf: Wie viel darf der Staat bestimmen, und wie viel Eigenverantwortung habe ich als Individuum? – Oftmals wird mit dem Satz Immanuel Kants – wir haben ihn heute wieder gehört -, die Freiheit des Einzelnen ende dort, wo die Freiheit des anderen beginne, erklärt, dass man die Rechte vieler Menschen zum Schutz Weniger einschränken müsse. Das kann in vielen Bereichen auch richtig sein. Doch ich glaube, dass dieser Satz gerade in dem in Rede stehenden Problemfeld so nicht gilt. Selbst der Deutsche Ethikrat wies zu Beginn der Coronakrise darauf hin, dass man dem Gesundheitsschutz nicht alle anderen Freiheits- und Partizipationsrechte, Wirtschafts-, Sozial- und Kulturrechte bedingungslos nach- bzw. unterordnen darf. Das sollte Maßstab weiteren Handelns sein.

Angesichts weiterer einschränkender Maßnahmen, die kommen werden, sollten wir uns genau an das erinnern, was führende Politiker des Bundes gesagt oder versprochen haben. – Jetzt kann man es naiv nennen, dass man diesen Versprechungen Glauben schenkt, aber man erinnert sich zumindest an sie.

Gesundheitsminister Spahn erklärte im November 2020, dass alle Beschränkungen fallen könnten, wenn zwei Drittel der Bevölkerung geimpft seien. Dieses Ziel haben wir erreicht; dennoch sind schwerwiegendste Beschränkungen auf den Weg gebracht worden.

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Redmann [CDU])

– Das hat ja einen gewissen Spannungsbogen. Da dieser Zwischenruf des CDU-Fraktionsvorsitzenden zu erwarten war, geht es in der Chronologie weiter. Sie können sich also beruhigen.

Kanzleramtschef Braun versprach im Frühjahr 2021, als Delta bereits bekannt war, dass wir zur Normalität in allen Bereichen zurückkehren könnten, wenn allen ein Impfangebot gemacht worden sei. Auch diese Zusage wurde nicht nur nicht eingehalten, sondern wird auch schamlos konterkariert, wenn nun dieselben wie selbstverständlich weitere Beschränkungen fordern.

Jetzt könnte man einwenden, Herr Braun habe ja bald nichts mehr zu sagen. Allerdings bewirbt er sich gerade für höhere Ämter. Insofern darf man sich ruhig auf ihn berufen und diese Widersprüchlichkeit herausstellen.

Meine Damen und Herren, die beschlossene Ausweitung der 2GRegelung führt zu einer unnötigen Vertiefung der Spaltung der Gesellschaft. Bei der Einschränkung von Grundrechten anhand einer freiwilligen Impfung zu differenzieren ist nicht sachgemäß. Vielmehr muss der Schutz besonders Gefährdeter, die Ausweitung niedrigschwelliger Impfangebote überall, gepaart mit breit aufgestellten Testkapazitäten, der Weg durch den Winter sein. Die sukzessive Einschränkung der Teilhabe bestimmter Bevölkerungsgruppen am öffentlichen Leben ist es mit Sicherheit nicht.

Brandenburg darf sich nicht erneut in eine Spirale der Schließungen und Beschränkungen begeben, auch nicht teilweise zulasten einiger. Jeder Mensch wird im sozialen Leben gebraucht, und jeder Mensch hat ein Anrecht auf Teilhabe. Deswegen müssen Verwaltung und Politik stets alles dafür geben, die Grundrechtseinschränkungen und die Freiheitsbeschränkungen möglichst aller möglichst gering zu halten. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit

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